Revolutionärer Defätismus, Agustín Guillamón, 2015

Wir haben hier einen Text von Agustín Guillamón übersetzt der sich dem ‚revolutionären Defätismus‘ aus historischer Sicht widmet. Vor allem bezüglich diesem während der sozialen Revolution im spanischen Staat 1936. Wir veröffentlichten vor kurzem einen Artikel von Miguel Amorós – Leninismus, faschistische Ideologiewo wir einige seiner eher vagen Kritiken bemängelten, wenn ohne dies aufräumen zu wollen, denn dies kann nur die verfassende Person allein, geht in diesem Text Guillamón selbst auf einige der Aussagen von Amorós konkreter ein, wie z.B., die Kritik an der Publikation ‚Bilan‘. Ein weiterer wichtiger Text für die Geschichte, und hoffentlich auch für die Zukunft der anarchistischen Bewegung, in dem gegenwärtige Delirien aufgeräumt werden.


Revolutionärer Defätismus, Agustín Guillamón, 2015

Gestern

Der Defätismus ist eine politische Taktik, die darauf abzielt, im eigenen Land durch pessimistische Nachrichten oder Ideen über den Ausgang eines Krieges oder eines anderen Vorhabens Mutlosigkeit zu verbreiten.

Revolutionärer Defätismus ist der der von einigen Minderheiten in einem Land, das sich im Krieg befindet, gegen die eigene Regierung treibt, mit dem Ziel, die revolutionäre Bewegung zu begünstigen. Sie steht in Opposition zur Union sacrée (A.d.Ü., geheiligter Bund), d.h. zur nationalen Einheit aller Klassen mit dem einzigen Ziel, den nationalen Sieg über den Feind zu erringen. Der revolutionäre Defätismus bricht mit der Union sacrée zwischen den Klassen und kämpft gegen die eigene Bourgeoisie mit dem Ziel, die Niederlage der eigenen Nation zu erreichen. Es gibt keinen anderen Horizont als den des Internationalismus, des Friedens und der sozialen Revolution.

Obwohl der Begriff (A.d.Ü., gemeint ist Union sacrée) bereits während des französisch-preußischen Krieges von 1870 sporadisch verwendet worden war, wurde er während des Ersten Weltkriegs populär, als Vorschlag von Revolutionären, im Namen des proletarischen Internationalismus gegen die eigene Regierung zu kämpfen, um ein revolutionäres Ergebnis zu erreichen, das den Krieg beenden kann. In Russland, Deutschland und Italien hatte er einigen Erfolg. Ungarn, Rumänien… und im Sommer 1917 bedrohte er ernsthaft die französische Armee, mit Meutereien ganzer Regimenter und Massendesertionen. Clemenceau, Pétain und das militärische Oberkommando führten kleinere Reformen durch und griffen zu gezielten Erschießungen, indem sie die aufständischen Regimenter gegen ihre eigenen Kommandeure dezimierten. Im Herbst 1917 kehrten die Soldaten zum Gehorsam zurück, voller Hass und Wut auf ihre Offiziere und die Politiker, obwohl es ihnen gelungen war, die Strategie des Generalstabs von der Großoffensive und dem damit verbundenen Gemetzel auf einen rein defensiven Grabenkrieg umzustellen. Doch die Taktik des revolutionären Defätismus erwies sich in Frankreich als unfähig, den Krieg zu beenden oder zu revolutionären Insurrektionen zu führen.

Während des Spanischen Bürgerkriegs gab es einige Versuche, den revolutionären Defätismus anzuwenden. Am bekanntesten sind die von Bilan und Los Amigos de Durruti (A.d.Ü., den Freunden von Durruti) geförderten.

Bilan vertrat einen abstrakten und idealistischen Defätismus, unter anderem weil sie nicht in der Lage war, in die spanische Arbeiterklasse einzugreifen oder sie im Geringsten zu beeinflussen. Die Thesen oder theoretischen Positionen der Fraktion sollten nicht verachtet oder lächerlich gemacht werden, aber ihr marxistischer Charakter sollte in Frage gestellt werden, denn ein kritischer Marxismus ohne die operative Fähigkeit, in die soziale und historische Realität einzugreifen, ist kein Marxismus: er ist Philosophie. Diejenigen, die von der Verteidigung Bilans um jeden Preis besessen sind, verfallen dem Idealismus, den Marx bereits in These Nr. 11 über Feuerbach kritisiert hat.

Die Italienische Fraktion der Kommunistischen Linken, die Bilan auf Französisch und Prometeo auf Italienisch herausgab, betrachtete den spanischen Bürgerkrieg als einen imperialistischen Krieg zwischen der demokratischen Bourgeoisie und der faschistischen Bourgeoisie.

Bilans Parolen über die Sabotage der Kriegsindustrie, die Verbrüderung an der Front mit den Faschisten, die Parteinahme für keine der imperialistischen Kriegsparteien usw. waren abstrakte, ideologische und in der Praxis reaktionäre Parolen, deren Hauptfehler ihre Wirkungslosigkeit, ihre mangelnde Fähigkeit, sie in praktische Aktionen umzusetzen, war: sie waren wertlose Schriftstücke. Aber es waren sehr brillante theoretische Thesen, die in den Seiten von Bilan sehr gut aussahen. Ihre praktische Umsetzung, die für die kleine Gruppe von Ausländern der Fraktion, die keinerlei Einfluss auf die Arbeiterklasse in Barcelona oder Katalonien hatten, absolut unmöglich war, hatte einen reaktionären Charakter, da es die Kollaboration mit den Faschisten bedeutete und ihnen half, die republikanische Front zu brechen, was der Armee Francos die Tore öffnete.

Bilan tat das Einzige, was sie tun konnte: ihre Positionen auf dem Papier zu verteidigen. Los Amigos de Durruti waren diejenigen, die einen verheerenden und aktiven revolutionären Defätismus in die Praxis umsetzten.

Die Gründung der Agrupación de Los Amigos de Durruti war der Endpunkt eines Prozesses des revolutionären Defätismus:

Am 20. Oktober 1936 wurde die Militarisierung der Milicias Populares (populären Milizen) beschlossen, die am 1. November in Kraft treten sollte. Die Milizionäre der Fraktion beschlossen, die Front zu verlassen, weil sie der Meinung waren, dass der spanische Bürgerkrieg endgültig zu einem imperialistischen Krieg geworden war. Wie in so vielen anderen Bereichen leisteten die verschiedenen anarchistischen Kolonnen mehrere Monate lang Widerstand gegen die Anwendung dieses Dekrets.

Die Ablehnung der Militarisierung der Milicias Populares führte zu ernsthaften Unruhen in verschiedenen Einheiten der libertären Milizionären, die auf dem Plenum der konföderalen und anarchistischen Kolonnen, das vom 5. bis 8. Februar 1937 in Valencia tagte, zum Tragen kamen. Pablo Ruiz nahm als Delegierter der Milizionäre der Durruti-Kolonne im Gelsa-Sektor teil, die der Militarisierung ablehnend gegenüberstehen, und die Brüder Pellicer als Vertreter der Milizionäre der Eisernen Kolonne. Die vierte Gruppierung der Durruti-Kolonne im Gelsa-Sektor widersetzte sich trotzig den Befehlen der Regionalkomitees der CNT und der FAI, die Militarisierung zu akzeptieren. Die Feindseligkeit zwischen den Milizionären der Durruti-Kolonne, die die Militarisierung akzeptierten, und denjenigen, die sie ablehnten, führte zu ernsthaften Problemen, die beinahe eine bewaffnete Konfrontation provozierten. Sie wurden durch die Bildung einer Kommission der Kolonne unter dem Vorsitz von Manzana kanalisiert, die das Problem beim Regionalkomitee ansprach. Als Ergebnis dieser Gespräche wurde beschlossen, allen Milizionären die Möglichkeit zu geben, innerhalb von fünfzehn Tagen zwischen zwei Alternativen zu wählen: entweder die von der republikanischen Regierung auferlegte Militarisierung zu akzeptieren oder sich von der Front zurückzuziehen.

Pablo Ruiz, Delegierter der vierten Gruppierung der Durruti-Kolonne in Gelsa, führte etwa 800 Milizionäre an, die trotz des Drucks beschlossen, die Front zu verlassen und ihre Waffen mitzunehmen, um nach Barcelona zu gehen und eine revolutionäre Organisation zu gründen, die sich der ständigen Abkehr von den anarchistischen Prinzipien und der laufenden Konterrevolution entgegenstellt. Diese Milizionäre waren der Grund für die Gründung der Agrupación de Los Amigos de Durruti. Im Mai 1937 hatten sie fünftausend Mitgliedsausweise ausgestellt und vierhundert von ihnen kämpften bewaffnet auf den Barrikaden.

Die Agrupación de Los Amigos de Durruti wurde offiziell am 17. März 1937 gegründet, obwohl ihre Ursprünge auf den Oktober 1936 zurückgehen. In der Agrupación trafen zwei Hauptströmungen aufeinander: die Opposition der anarchistischen Milizionäre der Durruti-Kolonne gegen die Militarisierung der Milicias Populares und die Opposition gegen den Regierungismus, die ihren besten Ausdruck in den Artikeln von Jaime Balius (aber nicht nur von Balius) in der Solidaridad Obrera von Juli bis November 1936, in Ideas von Dezember 1936 bis April 1937 und in La Noche von März bis Mai 1937 fand.

Beide Strömungen, die „Miliz“-Strömung der Ablehnung der Militarisierung der Milicias Populares, vertreten durch Pablo Ruiz, und die „journalistische“ Strömung der Kritik an der Regierungskollaboration der CNT-FAI, angeführt von Jaime Balius, standen in Opposition zur konföderalen umstandsbedingten und kollaborationistischen Ideologie (die als Alibi für die Abkehr von den charakteristischen und grundlegenden Prinzipien des Anarchismus diente), die unter anderem von Federica Montseny, Juan García Oliver, „Diego Abad de Santillán“ und Juan Peiró in verschiedenen Schattierungen verkörpert wurde.

Der revolutionäre Defätismus von Los Amigos de Durruti war etwas sehr Konkretes und Reales und daher revolutionär; im Vergleich dazu war der abstrakte und idealistische Defätismus von Bilan nur nasses Papier oder Geschwätz und zudem reaktionär. Bilans Unwissenheit war so groß, dass er zu keiner Zeit wusste, was Los Amigos de Durruti waren und was sie taten, denn von Paris aus schien alles theoretisch perfekt zu sein, und es war sehr einfach, in schönen Artikeln über Fakten und Dinge zu schwadronieren, die weit weg und fremd waren.

Hier gibt es keinen Raum für Zweifel oder Nuancen: Los Amigos de Durruti setzten eine der herausragendsten Episoden des revolutionären Defätismus in der Geschichte der Arbeiter- und Revolutionsbewegung in die Tat um: 800 Milizionäre verließen die Front in Aragón mit der Waffe in der Hand, um sich nach Barcelona zu begeben, um für die Revolution zu kämpfen, und gründeten die Agrupación de Los Amigos de Durruti, die im Mai 1937 versuchte, der Insurrektion der Arbeiter gegen den Stalinismus und die bourgeoise Regierung der Generalitat (A.d.Ü., katalanische Regierung) eine revolutionäre Ausrichtung zu geben. So war es und so geschah es. Die Militanten der Fraktion in Paris beschränken sich darauf, in den Artikeln, die in Bilan und Prometeo veröffentlicht wurden, mit mehr oder weniger Erfolg über dieser fernen und fremden Insurrektion zu predigen.

Während des Zweiten Weltkriegs gab es nur sehr wenige Fälle von revolutionärem Defätismus, da die Wahl zwischen Demokratie und Faschismus die Massen blendete, im Gegensatz zur revolutionären Alternative zwischen Kapitalismus (faschistisch oder demokratisch) und Kommunismus. Die kommunistische Alternative war ebenfalls grotesk deformiert als stalinistische Despotie. Nur einige kleine Minderheiten, die kaum wirklichen gesellschaftlichen Einfluss hatten, propagierten Parolen für die Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen revolutionären Bürgerkrieg.

Zu diesen Minderheiten gehörte vor allem die spanische Gruppe der Vierten Internationale, die in der in Mexiko erscheinenden Zeitschrift Revolución Artikel von Munis und Benjamin Péret über den imperialistischen Krieg veröffentlichte, in denen sie die Massaker der deutschen Bombenangriffe auf London, die amerikanischen Bombenangriffe auf deutsche Städte oder den engstirnigen reaktionären Nationalismus der französischen Résistance anprangerten.

Ein weiteres bemerkenswertes Beispiel waren der österreichische Jude Georg Scheuer und die RK-Gruppe (Revolutionäre Kommunisten), die unter den deutschen Soldaten der Hitler-Armee revolutionären Defätismus praktizierten und mit Flugblättern und Propaganda zur Desertion aus der deutschen Besatzungsarmee in Frankreich aufriefen. Ihre Aktionen übertreffen die wilde Fantasie eines Abenteuerromans. Als deutschsprachige Juden im besetzten Frankreich mussten sie Ausweispapiere fälschen, und sie fälschten Dokumente für Kriegsverletzte, weil es für sie billiger war, Zugfahrkarten zu kaufen. Als eine Militante der Gruppe von der Gestapo in ein französisches Krankenhaus entführt wurde, verkleidete sich die Gruppe als Gestapo-Kommando, erschreckte die faschistischen Vichy-Wachen und befreite sie, ohne einen Schuss abzugeben. Nach der Befreiung von Paris im August 1944 beteiligte sich Scheuer am Streik für die Besetzung und Selbstverwaltung der Renault-Fabrik, die einem führenden Kollaborateur gehörte, doch der revolutionäre Versuch scheiterte kläglich an der erdrückenden Last der kapitalistischen Restauration.

Heute

In der Gegenwart des laufenden Klassenkrieges hat der revolutionäre Defätismus fünf offene Fronten:

1. Die der nationalen Truppen, die in anderen Ländern in so genannten Friedensmissionen eingesetzt werden. Welche Interessen vertreten sie, wenn nicht die des internationalen Finanzkapitals? Welchen Frieden können Legionäre, Polizisten, Söldner usw. bieten?

2. Nach der Erfindung und Vergrößerung der islamischen oder systemfeindlichen terroristischen Bedrohung steht die Ausarbeitung einer politischen und militärischen Offensive gegen alle Freiheiten und demokratischen Rechte in den westlichen Ländern. Mittelfristig sind Sozialabbau und Freiheiten unvereinbar. Die verschiedenen Knebel- oder Anti-Terror-Gesetze sind der Anfang des Weges zu einem unbegrenzten politischen Autoritarismus, der zu mehr oder weniger gut getarnten Diktaturen mit unschuldigen demokratischen Zügen und einer Wahl zwischen dem Bösen und dem Schlechten führt.

3. Die staatliche Migrationsverbote sind Massenmorde und eine Verhöhnung der politischen Flüchtlinge.

4. Der soziale Krieg gegen die Ausgegrenzten, Arbeitslosen und Prekären nimmt heute die Form eines Krieges des Staates gegen die am stärksten benachteiligten Teile der Bevölkerung an, der seine Schlachtfelder in den Stadtvierteln und Ghettos hat.

5. Die defätistische Taktik sieht heute die Auflösung aller Armeen, aller Polizeikräfte, aller Grenzen, aller Staaten als einzige Lösung für das Überleben all derer vor, die keine Entscheidungsgewalt über ihr eigenes Leben haben und die unter der Verhöhnung durch Wahlen leiden, in denen Vertreter gewählt werden, die nichts anderes tun können, egal was ihr Wille ist, als das System zu stärken und seine zerstörerische und populärfeindliche Logik zur Verteidigung der multinationalen Konzerne und des Finanzkapitals anzuwenden.

Agustín Guillamón